TÜBINGEN
                                       7.4.2000                                Schwäbisches Tagblatt

 

        Wenn die Gier die Gefühle frisst

                             Eltern Essgestörter sprechen in der Selbsthilfegruppe über ihre Situation

 

TÜBINGEN (kal). Junge Essgestörte gehen durch die Hölle. In ihrer Gier verdrücken sie Un- mengen an Lebensmit- teln, die manche sofort wieder erbrechen. Auf die Ess-Attacke folgen Scham und Verzweiflung. Doch nicht nur die Be- troffenen leiden. Auch für Ihre Familien "ist es der Horror", wie eine Mutter sagt. Einige Eltern gründeten eine Selbsthilfegruppe, die offen für neue Mitglieder ist.

    Weder Schokolade noch Brot waren vor ihr sicher. Und auch das für den Vater vorbereitete Essen schlang Susanne Müller (alle Namen geändert) in sich hinein. Als immer wieder Vorräte aus dem Kühlschrank und der Speisekammer fehlten, die Tochter angeblich aber von nichts wusste, kontrollierte ihre Mutter Susannes Zimmer. "Überall waren verknüllte Schokoladen- papiere versteckt", beschreibt Brigitte Müller den Moment, als sie hinter das Geheimnis ihrer Tochter kam. Susanne war damals 14 Jahre. Heute ist sie 21 und macht eine Ausbildung zur Erzieherin. "Sie hat einen besonderen Draht zu schwierigen Kindern", sagt ihre Mutter.

    Unter den Ess-Störungen leidet die ganze Familie. "Es war immer eine Hochspannung im Haus", beschreibt Gerhard Müller das angespannte Klima. Die Tochter schwankte    zwischen himmelhoch-

jauchzend und zu Tode betrübt. Je nach Laune schrie sie Ihre Aggressionen heraus oder schloss sich ein. Der zweieinhalb Jahre jüngere Sohn zog sich zurück. Die Mutter bekam Herz- rhythmusstörungen, Der Vater fühlte sich "wie ein Wrack". Beide fragten sich, was sie falsch gemacht hatten, und schwankten zwischen Hass und Schuldgefühlen. Als Erlösung empfanden sie, dass Susanne nach langen Kämpfen um die Kostenübernahme ein Jahr in eine Fachklinik nach Berchtesgaden kam.

    "Man sucht immer den Grund bei sich selber", sagt Elke Maier, deren Tochter Martina seit ihrem elften Lebensjahr zwischen Bulimie (Heißhungeranfällen, die in Erbrechen enden) und Magersucht pendelt. Eine Mitschülerin hatte ihr den Tipp gegeben, nach dem Essen den Finger in den Hals zu stecken, als sie im Sportunterricht wegen ihres Bäuchleins gehänselt wurde. Heute ist Martina 20, macht eine Lehre im Hotelbereich und gilt überall als "fröhlich, lustig und hilfsbereit", wie Ihr Vater sagt, Ihr großer Freundeskreis weiß nicht, dass, sie krank ist.
   
     Elke Maier hatte gehofft, dass sich mit der Lehre etwas ändert. Doch: "Darauf warte ich heute noch." Seit einigen Jahren geht Martina regelmäßig in eine Therapie, über die sie mit ihren Eltern nicht spricht. Nur so viel hat sie Ihrer Mutter anvertraut: "Wenn es bei mir im Kopf nicht klick macht, hilft mir auch kein Arzt." Nur selten ist sie bereit, über Erfolge, Rückschläge und ihre Gedanken zu sprechen. "Mama, ich muss mich von dir lösen, notfalls mit Gewalt", sagt sie dann. Und will dennoch nicht ausziehen.

Die Sucht geht ins Geld. Susanne hat deswegen immense Schulden. Es kann sein, dass Martina kiloweise Mehl, vermischt mit Zucker und Öl, verschlingt. "Sie macht sich Sachen, bei denen es anderen den Magen umdreht", erzählt ihre Mutter. Gespräche helfen nichts. "Wenn wir es im Guten versuchen, funktioniert es nicht, und bei Druck gibt es Gegendruck", sagt Rolf Maier. "Man fühlt sich überfordert und steht machtlos da", ergänzt Brigitte Müller.

    In der Selbsthilfegruppe finden die Eltern Verständnis für ihre Situation. Sie können über ihre Sorgen und Gefühle reden. Dabei gilt, so Gerhard Müller, ein ehernes Gesetz: "Was gesprochen wird, bleibt In der Gruppe." Die Mitglieder, die sich seit rund einem Jahr treffen, nehmen sich jedes Mal ein Thema vor. Sie sprechen etwa über den Umgang mit der Krankheit oder die Situation der Geschwister. Manchmal laden sie Referenten ein wie eine Ernährungsberaterin, die sich auf Ess-Störungen spezialisiert hat. Oder sie geben Informationen aus Broschüren und Büchern weiter. "Mit der Zeit wird man zur Fachfrau", beschreibt Brigitte Müller ihren Lernprozess. Barbara Herzog vom Sozialforum möchte einmal eine abstinente Bulimikerin einladen, damit sie die den betroffenen Eltern erzählen kann, was früher in ihr vorging.

INFO: Die Eltern- und Ange- hörigen-Gruppe von essgestörten Kindern und Jugendlichen trifft sich jeden zweiten Dienstag im Monat um 20 Uhr im Sozialforum, Lorettoplatz 30, das unter der Nummer (07071) 38363 den Kontakt zur Gruppe vermittelt.