Magersucht / Bulimie                      

   

Wenn Essen nur noch Kampf ist ... 

  

 

Experten schätzen: Jede vierte Frau in Deutschland hat heute ein gestörtes Verhältnis zum Essen. Der Weg in die Magersucht oder Bulimie ist dann nicht mehr weit. Wenn Essen zur Krankheit wird - zwei Frauen erzählen

 

"Wissen Sie, wie das ist, wenn jeder Bissen im Mund wächst, größer und größer wird?" Solveig Pudelko (34) pumpt ihre Wangen zu Hamsterbacken auf und imitiert dabei laute Würgeräusche: „So fühlt sich das an. Du kriegst einfach keinen Bissen runter“.

Das war ihre schlimmste Zeit, damals vor acht Jahren. Als sie nur noch zwei halbe Scheiben Brot am Tag herunterbekam. Die 1,70 m große Frau war auf 44 Kilo abgemagert, konnte kaum noch laufen. „Ich spürte zum ersten Mal, dass ich ein ernsthaftes Problem habe, Hilfe brauche."

Da war sie 26 Jahre alt. Und saß bereits seit neun Jahren in einer Ess-Falle. Auslöser war ein Verbrechen. Solveig wurde vergewaltigt. Sie schwieg. Funktionieren, erfolgreich sein, höchste Ansprüche erfüllen und sich keine Schwächen leisten - so denken magersüchtige Frauen wie Solveig.

Und so war die Scham der damals Siebzehnjährigen, sich jemandem anzuvertrauen, zu groß. Sie fühlte sich sogar mitverantwortlich für das, was geschehen war. Von einem Tag auf den anderen änderte sie ihr Aussehen: „Ich lief nur noch in Schwarz herum, schnitt meine langen Haare ab." Ihre Gefühle aber, die schluckte sie einfach herunter. „Ich habe die ganze Sache komplett verdrängt. So, als sei nichts geschehen."

Sie traf sich mit Freunden, lebte das unbeschwerte Leben eines Teenagers, machte ihr Abi. Danach zog sie nach Hamburg zu ihrem Onkel. Dort „fraß" sie weiter alles in sich hinein. Ihre Einsamkeit in der fremden Stadt, ihr verdrängtes „schlimmes Erlebnis", das unverdaut zwei Jahre zurücklag. Sie aß, was sie kriegen konnte. Haufenweise Nutella-Brote, Süßigkeiten, Joghurts, Puddings. „Irgendwann wog ich 65 Kilo und fand mich nur noch hässlich. Also musste ich abnehmen. Ich dachte: „Dir wird es besser gehen, wenn du dünner bist.“

 Zu diesem Zeitpunkt steckte Solveig bereits im Teufelskreis der Ess-Störung fest. Selbsthass und die Unfähigkeit, Gefühle zu empfinden sind die ständigen Begleiter von essgestörten Frauen ganz gleich, ob es sich um Magersucht oder Bulimie handelt.

"Je weniger ich aß, desto euphorischer wurde ich"

Solveig fand immer wieder Tricks und Ausreden, um keine Nahrung mehr aufnehmen zu müssen. Sie mied Restaurantbesuche mit Freunden: "Ich sagte entweder, dass ich schon gegessen hätte. Oder dass ich erst später Zeit habe. Je weniger ich aß, desto euphorischer wurde ich." Parallel dazu starb alles andere in ihr ab. „Ich hatte keine Lust mehr auf Sex mit meinem Freund. Ich wollte mich eigentlich nur noch von der Welt zurückziehen und meine Ruhe haben." Sie fühlte sich nur wohl, wenn sie nichts aß. Jeder Bissen war eine Qual - so interpretiert die 34-Jährige heute die Anfänge ihrer Krankheit.

Je dünner sie wurde, desto schöner fühlte sie sich. Sie hatte eine „Wahnsinns-Energie". Jedes Wochenende Party, tagsüber der anstrengende Job als Schneiderin - kein Problem. „Ich stand in dieser Zeit nur noch neben mir".


"Ich glaube jede Ess-Störung ist ein Hilfeschrei der Seele"

Bis ihr Körper anfing zu streiken. Eine Freundin gab der damals 26-Jährigen den Tipp, sich an eine Therapiegruppe für Essgestörte zu wenden. Als Solveig einige Therapiegespräche hinter sich hatte, kam ihr die Erkenntnis, dass sie magersüchtig ist. Und ein anderes Gespenst tauchte auf: die Vergewaltigung neun Jahre zuvor ...

Zurzeit macht sie ihre zweite Langzeittherapie. „Das Schlimmste nach zehn Jahren Magersucht ist überstanden, mein Essverhalten hat sich so gut wie normalisiert." In den vergangenen acht Jahren musste Solveig mühsam lernen, sich mit ihren Wünschen und Gefühlen auseinander zu setzen. „Viele Jahre nahm ich meine eigenen Bedürfnisse überhaupt nicht wahr."

Das hat sich geändert. Sie hat ihrem Leben eine ganz neue Richtung gegeben und ein Psychologiestudium angefangen. Nebenher arbeitet sie als Behinderten-Betreuerin. Behutsam setzt sie sich mit ihrer Vergangenheit auseinander: "Magersucht ist auch immer ein Symptom für verdeckte familiäre Konflikte." Sie glaubt, dass sie schon lange vor der Vergewaltigung magersüchtig gewesen ist. Doch erst dieses qualvolle Erlebnis hat ihr den eigenen Körper geraubt. "Ich bin davon überzeugt, dass jede Ess-Störung ein Hilfeschrei der Seele ist. Aber ich habe es geschafft, wieder in meinen Körper einzuziehen..." 


Solveig Pudelko:  

"Heute richte ich mich nur nach meinem Spiegelbild und nicht mehr nach den Kilozahlen auf der Waage. Und das macht mich zufrieden..." 

 

Eines Tages machte es bei Sabine Schürfeld (33) Klick". Ohne Vorwarnung. "Ich habe von einem Käsebrötchen abgebissen und war pappsatt." 

Sabine hatte gerade ihre Lehre zur Industriekauffrau angefangen, als der Appetit sie verließ. Bis heute kann sie nicht sagen, warum. Sie war zufrieden mit der Lehrstelle; es gab nichts, was ihr auf den Magen geschlagen wäre. Und doch war da einfach kein Hunger mehr. Zwei Jahre lang nahm sie keine einzige warme Mahlzeit zu sich. "Ein Schwarzbrot mit Marmelade, zwei Äpfel. Ab und zu einen Joghurt. Das reichte." Erst viel später fiel ihr auf, wie "erhebend" es war, den anderen beim Essen zuzugucken und selbst nichts zu brauchen. "Du hast die Macht, die Kontrolle. Ich verachtete alle, die schwach waren und essen mussten. "Doch dann veränderte sich ihr Ess-Verhalten. Wieder einmal ganz plötzlich, ohne Vorwarnung. "Ich bekam Fressanfälle. Eiscreme, Negerküsse, Chips - alles stopfte ich in Sekundenschnelle in mich rein. Das machte mein Magen natürlich nicht lange mit - und ich musste alles wieder erbrechen." Sabines Ess-Brech-Sucht steigerte sich so rasant, dass sie nur ans Brechen denken musste, und alles kam wieder heraus. "Manchmal saß ich im Auto und musste rechts ranfahren, um mich übergeben zu können. Ich konnte das irgendwann nicht mehr steuern."

Zwischen dieser Zeit und heute liegen fünfzehn Jahre. Eine Zeit, in der es bergauf und bergab ging: Streit mit den Eltern, Schwangerschaft, Geburt, die Trennung vom Freund. Für ihr Kind hat sie sich gesund ernährt, und trotzdem bekam sie ihre Sucht nicht in den Griff.

Das Ende kam vor fünf Jahren, Eine Bronchitis machte ihrem Körper zu schaffen. Kein Antibiotikum schlug an. Dazu hatte sie täglich bis zu 70 Ess- und Brechanfälle. Von 7 Uhr morgens bis nachts um 1 Uhr lief sie jede Stunde mindestens dreimal zur Toilette. "Da half nur noch eine stationäre Aufnahme in einer psychosomatischen Klinik in Sachsen-Anhalt."

"Mein ganzes Leben lang sehnte ich mich nach Liebe" 

Der Sohn kam zu ihren Eltern, und Sabine musste sich erstmals mit dem auseinandersetzen, wovor sie jahrelang geflüchtet ist: "Ich war immer das schwarze Schaf in der Familie. Nie konnte ich es meinem Vater recht machen. Er wollte nur Leistung sehen, und wenn ich die gebracht hatte, war es noch nicht genug." Wie oft hat sie sich danach gesehnt, von ihm einfach mal in den Arm genommen zu werden. Zu spüren, dass sie geliebt wird. So wie sie ist. „Natürlich hat so eine Ess-Störung noch viele andere Ursachen - aber bei mir kristallisierte sich vor allem eines heraus: Ich konnte nicht mit Misserfolgen, Pannen und Fehlern umgehen." Wenn nur eine Kleinigkeit im Job oder im Privatleben schief ging, brach für sie eine Welt zusammen. Diesem Druck konnte sie nur mit Fress- und Brechanfällen standhalten.

Erst als sie in der Klinik auf Frauen traf, denen es genauso ging, legte sie ihre Maske ab: "Jahrelang habe ich jedes Gefühl, egal ob schlecht oder gut, einfach runtergeschluckt." Heute lebt sie allein mit ihrem Sohn in Hamburg. Sie arbeitet in einem Fachgeschäft für gesunde Ernährung. "Ich fühle mich wieder wohl in meiner Haut. Endlich ist mein Hunger nach Liebe gestillt."

   

Sabine Schürfeld (33): 

„Zum Schluss hing ich am Tag bis zu 70-mal über der Toilette. Heute habe ich die Bulimie im Griff. Spaß an gesundem Essen“ 

  

Sabine Schürfeld mit ihrem Sohn Etienne (7). "Erst durch ihn habe ich wieder gelernt, zu fühlen und zu lieben". 

  

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"Schönheits-Ideale verursachen Ess-Störungen“

 

 

  Textfeld: Buch-Tipp

Monika Gerlinghoff,
Herbert Backmund
"Essen will gelernt sein"
Eß-Störungen erkennen
und behandeln. Im Beltz
Verlag, 12,45 Euro

Dr. Harald Imgart (39), Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, 
Parkland-Klinik Bad Wildungen

 

 

Sind die beiden Fälle typisch
für Magersucht und Bulimie? 

 Mit diesem Link können Sie das Buch "Essen will gelernt sein" direkt bestellen!

 

Bei einer Magersucht ist es typisch, dass die Betroffene sich lange Zeit nicht eingesteht, an einer Ess-Störung zu leiden. Typisch ist auch, dass Angehörige von Magersüchtigen lange Zeit die Krankheitssymptome ebenfalls nicht wahrnehmen. Sie lassen sich von der besonderen Leistungsfähigkeit der Erkrankten blenden. Erst wenn schwerste körperliche oder soziale Symptome auftreten, kommen Magersüchtige in Behandlung. Bei der Bulimie ist es anders. Die Betroffenen wissen sehr wohl, dass sie an einer Ess-Störung leiden. Sie schämen sich jedoch und versuchen, ihr Leiden zu verbergen.

Woran erkennt man eine Ess-Störung?

Viele Betroffene sagen, dass sie sich zwanghaft mit dem Essen und Zählen von Kalorien beschäftigen. Hinzu kommt eine große Furcht vor dem Dickwerden und eine ausgeprägte Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper. In letzter Zeit beobachten wir sowohl bei der Anorexie (Magersucht) als auch bei der Bulimie einen regelrechten Missbrauch von sportlichen Aktivitäten. Exzessives Sporttreiben dient dabei ausschließlich dem Ziel, nicht dicker zu werden.

Spielt der herrschende "Schlankheitswahn" dabei eine Rolle?

Die Zunahme von Ess-Störungen hängt ganz eindeutig mit dem gesellschaftlichen Schönheits-Ideal zusammen. Hier spielen die Medien eine große Rolle. Sie verbreiten das, was als schick und schön gilt. Und britische Ärzte haben in einer Studie festgestellt, dass das Einstiegsalter für die Droge Diät immer jünger wird.

Es gibt neueste Schätzungen, nach denen mittlerweile jede vierte Frau zwischen dem 14. und 35. Lebensjahr essgestört ist. Können Sie das bestätigen?

Die offiziellen Zahlen sagen: 5 Prozent aller Frauen zwischen 14 und 35 leiden an einer chronischen Magersucht oder Bulimie. Davon bleiben die meisten unbehandelt. Besonders bei Jugendlichen ist eine Zunahme bei der bulimischen Ess-Störung zu sehen. 15 Prozent leiden an einem risikohaften Essverhalten und sind gefährdet, ernsthaft daran zu erkranken.

Gibt es bestimmte familiäre Konflikte, die eine Ess-Störung begünstigen?

Es gibt einen Zusammenhang zwischen bestimmten familiären Konstellationen und Magersucht oder Bulimie. Dabei geht es immer um Leistung, Druck und Selbstwertgefühle. Insgesamt sehe ich in der zunehmenden Verunsicherung in Familie und Gesellschaft eine Ursache für die Entstehung von Ess-Störungen. Die Jugendlichen müssen heutzutage eine viel höhere Anpassungsleistung vollbringen. Da kann eine Kontrolle über das Essen "helfen", in einer unsicheren Welt so etwas wie einen Halt zu finden.

Ist es wahr, dass auch zunehmend Männer davon betroffen sind?

Wir haben sogar einen eigenen Behandlungsschwerpunkt dafür eingerichtet. Die Statistik sagt, bis zu 10 Prozent aller Essgestörten sind Männer. Auch sie sind verunsichert.

 

Hier finden Sie Hilfe:

ANAD e.V. Beratungsstelle für Eß-Störungen Seitzstraße 8 80538 München  

Tel.: 0 89 / 24 23 99 60  

vermittelt Adressen und Kontakte in der ganzen Bundesrepublik.  

iim Internet. www.ANAD-pathways.de 

 

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(Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung durch die LAURA-Redaktion der Heinrich Bauer Achat KG in Hamburg 

Erschienen in LAURA Heft 16 am 8.4.2002

ã Verlagsgruppe Bauer

  

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Zuletzt aktualisiert am: 18. Februar 2014 10.30 Uhr