,,Freiheit vom Essen,,

Veröffentlicht: 21. April 02
Autorin: Margarete, Tübingen


Mein "Kampf" mit dem Essen fing in meiner Pubertät an. Als Kind hatte ich nie Probleme mit dem Essen. Dennoch weiss ich heute, dass ich schon damals viele Wesenszüge meiner Esssucht hatte. Diese sind v.a. Angst, Zweifel und Unsicherheit. Ich fühlte mich in der Grundschule immer als Aussenseiter und einmal kam ichnach der Schule nach Hause und sagte zu meiner Mutter, dass niemand mit mir spielen will. Fakt war aber, dass ich durchaus Freunde hatte. Später dann, seit der Pubertät verdichtete sich dieses Aussenseitergefühl zu Minderwertigkeitskomplexen. Ich fühlte mich immer klein, dick und hässlich. Andere konnten noch so oft sagen, dass ich doch so eine hübsche junge Frau sei.

Mit ca. 12 Jahren also bekam mein Körper Rundungen und ich wurde (fand ich zumindest) ziemlich pummelig. Da begann der Stress mit Essen. Ich kaufte Light-Produkte, fing mit Diäten an, ging nach zu viel Essen Joggen, und hatte immer den guten Vorsatz, dass ich mich MORGEN ganz gesund ernähre, viel Sport mache, Joga, Meditieren... Das "Morgen" endete meist beim Frühstück und wurde erst 16 Jahre später nach 15 Kilo Untergewicht, 15 Kilo Übergewicht und 10 Jahren Bulimie mit bis zu 7 mal "Fressen und Kotzen" am Tag wahr. Das Frühstück wurde schnell das erste, woran ich morgens beim Erwachen dachte: Meine Brötchen mit Butter und Marmelade! Dabei blieb es natürlich zusehends nicht. Später als ich verheiratet war und mein Mann und ich studierten und er morgens nicht so bald aus dem Haus musste war das immer Stressfaktor Nr. 1: Wie krieg ich ihn möglichst schnell los, damit ich in Ruhe Fressen und Kotzen kann. Auch als ich noch bei meinen Eltern wohnte, waren das immer die Sternstunden, wenn ich wusste, dass meine Eltern länger weg sind und nur ich und mein Essen da war. Ich habe mir dann immer im Supermarkt Süssigkeiten, Pizzen und beim Bäcker süsse Stückchen gekauft (v.a. Zucker- und Mehlprodukte) und hielt es meist nicht bis zu Hause aus, sondern fing schon unterwegs an zu essen.
Anfangs, als ich mir aus lauter Verzweiflung den Finger in den Hals steckte weil ich Angst hatte, dick zu werden, dachte ich: Die geniale Entdeckung! Ich kann so viel essen wie ich will, ohne dick zu werden. Warum nur ist Bulimie eigentlich eine Krankheit? Mehr und mehr merkte ich jedoch, dass der Hunger immer mehr wurde und dass es mir nach dem erleichternden "ersten Bisssen" immer weniger schmeckte. Es ging nur noch um Mengen. Meinen Magen schnell voll zu kriegen. Ugh! Und wenn ich nicht genügend getrunken hatte hing beim Erbrechen die ganze Pampe am Magenausgang fest...Ich bekam geplatzte Äderchen im Gesicht, einen wahnsinns Druck auf meinem Kopf, Blutblasen an meiner Zunge, eine wunde Speiseröhre. Zuletzt bekam ich Angst, dass ich eines Tages beim Erbrechen sterben könnte. Ich betete vor dem Erbrechen: Lieber Gott, lass es mich nur noch dieses mal überleben, ich wills auch nie wieder tun...Das hielt meist nicht länger als eine Stunde.

Ich bin eine sehr willensstarke Frau, aber mit den Essanfällen konnte ich nie aufhören. Heute weiss ich, dass ich es alleine und mit meinem Willen auch nicht schaffen kann. Ich bin meiner Krankheit gegenüber völlig machtlos.
Es folgten Jahre der Psychotherapie, Klinikaufenthalte, eine schwere Depression mit Selbstmordgedanken. Eigentlich wollte ich nicht wirklich sterben, aber ich wollte so gerne einfach Frieden und Ruhe vom Terror des Essens. Ich nahm eine Zeit lang auch Psychopharmaka, was mir einige Zeit Erleichterung verschaffte, mir jedoch mit dem Essen nicht weiterhalf, im Gegenteil! Das Zeug verstärkte sogar die Gier nach Essen.

Vor ca. 4 1/2 Jahren besuchte ich mehr oder weniger widerwillig (auf Anraten meines Therapeuten) die Selbsthilfegruppe FA. Da nur wenige Leute da waren wollte ich eigentlich gleich wieder gehen. Ich blieb dann, weil ich mich nicht weg traute. Ich fühlte mich aber so erleichtert als ich da wieder rauskam und wollte unbedingt mitmachen! Ich war so erleichtert, weil ich von anderen ganz offen hörte, dass auch sie immer zu verschiedenen Bäckereien gegangen waren, "damit es nicht auffällt", dass auch sie Essen aus dem Müll geholt haben, was dort zuvor aus Verzweiflung mit dem guten Vorsatz gelandet war, nie wieder! Wie offen die da redeten. Ich schämte mich für alles was ich tat immer so, sogar vor meiner Therapeutin. Rein theoretisch wusste ich, dass es viele andere Frauen und Mädchen gibt, die an Bulimie, Überessen oder Magersucht leiden, sogar in meinem Freundeskreis. Aber ich wollte nie mit jemandem offen drüber reden. Das war nur MEINS.

Ich habe seit 4 1/2 Jahren ein stabiles und normales Gewicht, hatte keine Essanfälle mehr, habe nicht mehr erbrochen oder gehungert, bin also abstinent. Was aber noch viel wichtiger ist, das Essen ist aus meinem Kopf, ebenso mein Gewicht. Ich lebe heute so, wie ich früher dachte dass nur Männer leben können: Ich stehe vom Tisch auf und brauche mir keine Gedanken mehr zu machen, ob es nun zu viel oder zu wenig war. Ich kümmere mich nicht mehr darum. Ich habe durch FA FREIHEIT VOM ESSEN bekommen, was für mich echt ein Wunder ist. Und noch wichtiger ist, dass ich mich wohl in meiner Haut fühle, keine Depressionen mehr habe, keine Medikamente mehr nehme und mein Leben liebe wie es ist; mich einfach wieder zufrieden fühle und wieder mehr Selbstsicherheit und Selbstachtung habe.

FA steht für Anonyme Esssüchtige in Genesung (Food addicts in Recovery Anonymous) und ist eine 12-Schritte-Selbsthilfegruppe. Die Türen stehen für jeden offen, der von sich selbst glaubt Probleme mit Essen zu haben, egal in welcher Form. Und es muss nicht immer die extreme Form Überessen, Bulimie und Magersucht sein. Viele kommen auch weil sie den ganzen Tag rumknabbern, sonst aber gar nicht so übergewichtig sind.


Kontakttelefon: 07071/ 967804
oder www.foodaddicts.org/de (FA, Deutschland)


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